Vor vielen Jahren erhielt der Brite Bernard Rose die Chance, in Jim Hensons Creature Shop an der Muppet Show und an The Dark Crystal mitzuwirken. Es folgten Musikvideos, Fernsehfilme und mit seinem Horror-Kultfilm Candyman (1992), in dem eines der wohl verführerischsten Monster der Kinogeschichte sein Unwesen treibt, der Durchbruch im US-Kino. Jetzt wagt sich Rose an ein abgehauenes Urgestein des Horrorkinos heran – und liefert einen gewaltig beklemmenden Frankenstein, den man so noch nicht gesehen hat.
Ein ausgewachsener Mann wird geboren und erblickt das gleißende Licht des Labors. Er hat die mentale Kapazität eines Neugeborenen und die Stärke von zehn Pferden. Geborgen fühlt er sich in den Armen der Mutter, unwissend, dass sie ihn von einer Maschine zusammensetzen ließ. Doch die Formel war fehlerhaft und sein schönes Gesicht zerfällt. Die Mutter wendet sich geekelt ab und überlässt das Monster seinem Schicksal. Angetrieben von Schmerz und Einsamkeit, die eigene Identität und zerstörerische Kraft in seinen Händen nicht begreifend, flieht es hinaus in die Welt, in der geschlagen und gelyncht wird – bis zum bitteren Ende.
Es ist Roses moderne Variante einer alten Geschichte, derer das Kino scheinbar nie überdrüssig wird. Und das mit gutem Grund, kapitalisiert sie doch hervorragend aus der menschlichen Angst vor den Konsequenzen, die das maßlose Experimentieren und Herumpfuschen an den sogenannten Geheimnissen des Lebens nach sich ziehen könnte.
Dabei ist die Entstehung des originalen Frankensteins selbst schon eine Geschichte wert. So begab es sich im Jahr 1816, dem außergewöhnlichen „Jahr ohne Sommer“, dass sich die 18-jährige Mary Shelley und ihr Liebhaber in der Villa des englischen Poeten Lord Byron einquartierten. Tage- und nächtelang amüsierte sich die Gesellschaft vor dem Kaminfeuer mit deutschen Geistergeschichten und anregenden Gesprächen über die Reanimation von Leichen. Schließlich wollte Byron sehen, wer die beste Horrorgeschichte erfinden könne, was Mary Shelley so unter Stress setzte, dass ihr die zündende Idee zu Frankenstein in einem spätnächtlichen Fiebertraum einfuhr. Zwei Jahre später wurde Shelleys Roman veröffentlicht und prägte nicht nur die gotische Schauerromantik, sondern markierte auch die Geburtsstunde der Science Fiction.
In Shelleys Werk ist es der junge Schweizer Viktor Frankenstein, der die Formel des Lebens knackt, sich im Forscherwahn aus Leichenteilen einen künstlichen Menschen zusammenflickt und dabei ein Monstrum erweckt, das ihn entsetzt die Flucht ergreifen lässt. Verstört irrt die verschmähte Kreatur umher, bis sie letztlich nach Rache sinnt und ihren Schöpfer zur Rechenschaft zieht. Als das Kino zu Beginn des 20. Jahrhunderts seine Erfolgsgeschichte antrat, war Frankenstein mit an Bord und fungierte seither als Warnung an die Menschheit, sich nicht an der Formel des Lebens zu vergreifen. 1931 flimmerte die erste Tonverfilmung des Stoffes auf der Leinwand, die mit Boris Karloff und beeindruckenden Make-up-Effekten dem Monster sein markantes Aussehen und den Platz in der Populärkultur verschaffte. Seither wird auch mit dem Namen Frankenstein nicht mehr der Schöpfer, sondern vielmehr das Monster selbst assoziiert.
Der Stoff war so populär, dass er in alle nur erdenklichen Richtungen ausgereizt wurde. Unter den 100 Verfilmungen finden sich so unter anderem ein Franchise von Universal mit Titeln wie Bride of Frankenstein, Son of Frankenstein und Frankenstein Meets the Wolf Man; ein Blaxploitation-Film namens Blackenstein; eine japanische Kaiju-Filmreihe in den 60er Jahren mit Titeln wie Frankenstein Conquers the World, in denen gigantische atomverseuchte Abkömmlinge von Frankensteins Monster herumstolpern; oder eine Comic-Verfilmung namens I, Frankenstein, die nahe legt, dass die Leichenteile, aus denen das von Aaron Eckhart verkörperte Monster hier zusammengeflickt wurde, allesamt von Solarium-gebräunten Bodybuildern stammten. Zu den großen Nachfolgern Karloffs zählen Christopher Lee (The Curse of Frankenstein 1957), Robert De Niro (Mary Shelley’s Frankenstein 1994) und seit kurzem auch Rory Kinnear in Penny Dreadful. Wie sich die Visage des Monsters über die Jahre verändert hat, zeigt euch die Bilderreihe.
Was Bernard Roses Frankenstein aus der Masse an Adaptionen herausfunkeln lässt, ist, dass er die Geschichte in die Gegenwart holt und ganz aus der Perspektive des Monsters erzählt, gespielt vom jungen Xavier Samuel. Rose wirft mit seinem Film mehr denn je die Frage auf, wer hier das wahre Monster ist und fällt dabei ein radikal vernichtendes Urteil über den Zustand der Menschheit. Das klingt zwar schrecklich moralisierend, doch ist das Scheitern der künstlich geschaffenen und unverstandenen Kreatur hier so unfassbar schmerzlich erzählt, so gnadenlos brutal, dass man von diesem Frankenstein hoffentlich noch lange reden wird.
Das Beste zum Schluss: Bernard Rose ist ein Festivalgast beim heurigen /slash! Und weil uns das tierisch freut, holen wir gleich noch seinen Candyman auf die große Leinwand zurück. Der Horror-Klassiker entführt uns in den verfallenen und von Jugendgangs regierten Gemeindebau Cabrini-Green, in dem eine urbane Legende, ein alter Fluch und ein überaus verlockendes Monstrum eine junge Sozialforscherin in ihren Bann ziehen. Das Ergebnis ist ein zutiefst dunkelromantisches Vergnügen und allein schon wegen der Filmmusik von Philip Glass absolut empfehlenswert.