Auftakt

Wie die Zeit vergeht! In weniger als drei Monaten steht das nächste /slash Filmfestival vor der Tür und so wurde mir ans Herz gelegt, ich möge die Webseite aus der verstaubten Gruft heraus holen und zu neuem Leben erwecken. Zum Auftakt will ich euch eine kleine Geschichte erzählen.

Als ich ein Kind von sechs oder sieben Jahren war, übte das Reich meines großen Bruders eine magische Anziehungskraft auf mich aus. Die Pforte zum Kabinett des Grauens, wie ich sein Zimmer noch heute andachtsvoll bezeichne, befand sich im hintersten Teil eines langen stockdunklen Flurs und wurde von einem ein Meter großen Skelett mit leuchtend roten Augenhöhlen bewacht. Meist blieb mir der Eintritt dort ohnehin verwehrt. Doch gelegentlich, wenn sich der Bruder gerade wer weiß wo herumtrieb, wagte ich den letzten Schritt über die magische Schwelle und fand mich augenblicklich in einem wahrgewordenen Alptraum wieder.

Dicke, halb verschlossene Samtvorhänge hüllten den Raum in düster-rotes Licht, die Luft lag schwer und es roch betäubend nach pubertärem Schweiß und Räucherstäbchen. Auf Regalen waren im Halbdunkel zwei Totenschädel und das sorgfältig gesäuberte Gerippe eines kleinen Waldtieres zu erkennen. Ein großes Nutellaglas war zum Mausoleum für Fleischfliegen umfunktioniert worden. Doch was mir die Nackenhaare am meisten zu Berge stehen ließ, das waren all die Monster und Fratzen, die mir von den Wänden herab entgegenblickten. Da war Ridley Scotts Alien gerade dabei, aus dem Brustkorb seines ersten Opfers auszuschlüpfen. Da waren HR Gigers postnuklear deformierte Säuglinge. Über dem Bett thronte ein überlebensgroßes Plakat vom maskierten Jason aus Friday the 13th, während auf der anderen Seite der Hellraiser, der psychopathisch durch die zersplitterte Tür grinsende Jack aus The Shining und die dämonische Wolkenfratze von Fright Night meinen Blick fesselten. Hinter dem massiven Schreibtisch lugten Joe Dantes Werwölfe hervor und ließen den Platz unter dem Tisch in meiner Fantasie zur Höhle des ultimativ Bösen mutieren, aus der ein markerschütterndes Knurren zu vernehmen war.

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links © Warner Brots, rechts © Columbia Pictures

Mein Trick 17 mit Selbstüberlistung, der darin bestand, den mir unbekannten Fratzen und Monstern kinderfreundliche Namen zu verpassen und Smalltalk mit ihnen zu führen, half gegen meine Furcht nur mäßig. Doch auch, wenn es jedes Mal eine riesige Überwindung war, so ließ mich der Nervenkitzel immer wieder in jenes Kabinett des Grauens zurückkehren. Vielleicht auch, weil ich mich dort mit der Zeit sogar ein bisschen wohl fühlte. Was ich damals noch nicht ahnen konnte: Dies war der Beginn einer Leidenschaft, die ich erst sehr viel später im Leben so richtig verstehen sollte.

Heute kann ich all die schauderhaften Gestalten von den Wänden, die meine kindlichen Alpträume besiedelt hatten, im Schlaf bei ihren richtigen Namen nennen. Und einige Kandidaten sind mir ordentlich ans Herz gewachsen. Aus den Alpträumen der Kindheit heraus hat sich eine tiefe Faszination und Schaulust entwickelt für all diese düsteren Filme, in denen man seinen ungeahntesten Ängsten entgegen tritt, die unsere Mägen in den Schleudergang versetzen und unsere Nerven in die Ohnmacht kitzeln. Das Zimmer meines Bruders gibt es schon lang nicht mehr. Stattdessen ist das /slash Filmfestival zu meinem neuen Kabinett des Grauens geworden, zu jenem magischen Ort, den ich jedes Mal mit großer Ehrfurcht und auch ein wenig Überwindung betrete, und der mich doch jedes Mal von Neuem unwiderstehlich anzulocken vermag.

Was gibt es letztlich Schöneres, als dieser Vorliebe gemeinsam mit Gleichgesinnten zu frönen und sich in einem der charmantesten Kinosäle Wiens gewaltig aus der eigenen Komfortzone katapultieren zu lassen – das Bier in der einen Hand, die Armlehne oder des Nachbars Oberschenkel in der zur Kralle geformten anderen Hand? Es ist keine Schande, wenn man auf diese Frage nur verträumt antworten kann: „Rein gar nichts.“

Über Verena Saischek

Verena ist Filmenthusiastin und als solche immerzu auf der Suche nach filmischen Kostbarkeiten abseits des Konventionellen, des Vorhersehbaren, des Risikolosen und Massentauglichen.
Wenn sie sich nicht gerade als Kritikerin und Wortjongleurin versucht, sitzt sie irgendwo im Kino oder streift durch die Wälder und erschreckt Eichhörnchen.

Dieser Eintrag wurde abgelegt in /slash 2015.