In den großen Kinos regiert nach wie vor der US-amerikanische Horror. So wissen viele gar nicht, dass sich in etlichen anderen Filmnationen längst eine wildwüchsige und spannende Horrorszene entfesselt hat. Mit gleich drei Filmen – ME QUEDO CONTIGO, MEXICO BARBARO und SCHERZO DIABOLICO – rückt das /slash dieses Jahr das unabhängige mexikanische Genrekino ins Rampenlicht. Und hier sollte man schon einen Blick wagen, hat dieses Land mit Guillermo del Toro doch bereits einen sehr großen Meister des Fantastischen Films hervorgebracht.
Dabei ist Mexiko eine vom Drogenkrieg fast besinnungslos geprügelte Nation. Hinzu kommen gesellschaftliche Krisen wie die illegale Emigration in die USA, von der sich viele ein Leben jenseits von Chaos, korrupten Polizisten und organisiertem Verbrechen erhoffen. Doch gerade der Weg über die Grenze ist ein mit Leichen gepflasterter. Es sind gravierende Missstände, die ganz klar auch das mexikanische Kino geprägt haben.
Eines der bekanntesten Beispiele aus der mexikanischen Filmgeschichte ist der von Luis Buñuel realisierte Film LOS OLVIDADOS (1950), der erschütternd realistisch eine Geschichte rund um die kriminellen Jugendbanden in den Slums von Mexiko-City erzählt. Auch der vom Surrealismus inspirierte chilenische Kult-Regisseur Alejandro Jodorowsky drehte viele seiner Filme in Mexiko, etwa den Midnight Movie EL TOPO (1970).
Heute kennt die Welt vor allem drei große Filmemacher mexikanischen Ursprungs, die sich allerdings längst nach Hollywood durchgeschlagen haben: Alejandro González Iñárritu (u. a. AMORES PERROS, 21 GRAMM, BIRDMAN), Alfonso Cuarón (u. a. Y TU MAMA TAMBIEN, CHILDREN OF MEN) und Guillermo del Toro (u. a. CRONOS, MIMIC, EL ESPINAZO DEL DIABLO, HELLBOY, PANS LABYRINTH). Letzterer hat mit seinem leidenschaftlichen Gespür für dunkel-fantastische Kreaturen und Geschichten seit den 90ern Beeindruckendes zum Genrekino beigesteuert. Del Toro ist Produzent und Co-Schöpfer des apokalyptischen Vampir-Virus-Serien-Spektakels THE STRAIN, basierend auf der von ihm und dem Autor Chuck Hogan verfassten Roman-Trilogie. Das /slash zeigt den Auftakt der zweiten Staffel auf der großen Leinwand, mehr dazu hier.
Doch auch abseits dieser Star-Regisseure hat das unabhängige mexikanische Kino in den letzten Jahren verstärkt auf sich aufmerksam gemacht und die Horrorszene blüht gerade richtig auf. Sie bietet nicht selten brachialen Gegenwartshorror, in dem das Trauma der Nation angesichts der tagtäglichen realen Gewalt immer wieder spürbar wird.
Weibliche Psychopathen sieht man nicht alle Tage. In ME QUEDO CONTIGO reißen sich vier junge Frauen auf einer zügellosen Reise durch die Nacht einen „Macho-Man“ in Cowboy-Montur auf und verschleppen ihn in eine Landvilla. Dort fesseln sie ihr Spielzeug an eine Striptease-Stange und verfüttern ihm eine Potenzpille. Als sich der Mann jedoch so gar nicht als williger Playboy entpuppt, reißt den vier Chicas endgültig der Vernunftsfaden.
Artemio Narro heißt der Regisseur dieses zunächst unscheinbaren, doch bald mordsfiesen und kontroversen Films, der das Horror-Klischee der entführten, sexuell genötigten und gefolterten Frau umkehrt und sich beim Schauen so anfühlt, als würde einem ganz langsam die Luft aus den Lungen gequetscht. Wie auch schon in diversen Kunstprojekten setzt sich Narro in seinem Filmdebüt mit irrationaler Gewalt und Machtstrukturen auseinander. Gender-Rollen wurden selten so brachial auf den Kopf gestellt und Sympathieträger sucht man hier vergebens. Stattdessen startet ME QUEDO CONTIGO einen Frontalangriff auf das Moral- und Gewaltverständnis seiner Zuschauer, die sich schon bald fragen werden, warum um Himmels willen sich für diesen armen Cowboy einfach keine Empathie einstellen will. Und das ist eine durchaus unangenehme, aber auch sehr spannende Erfahrung!
Das Screening findet übrigens in Anwesenheit der Schauspielerin Flor Edwarda Gurrola statt.
Auf eine bitterböse Verhandlung der Moral trifft man auch in Adrián García Boglianos SCHERZO DIABOLICO: Der mild gesinnte Durchschnittsmexikaner Aram hat die Nase voll von seinem kläglichen Dasein zwischen demütigendem Job und biestiger Ehefrau. Doch sein schöner Plan, mit der Entführung eines Schulmädchens den Machtverlust in seinem Leben wieder aufzuheben, geht nach hinten los und für Aram beginnt eine blutige Fahrt zur Hölle – denn sein Opfer entpuppt sich als diabolische Gegnerin.
Der spanischstämmige, in Argentinien zum begnadeten Regienachwuchs herangereifte und seit einigen Jahren auch in Mexiko arbeitende Bogliano ist schon fast ein alter Bekannter des /slash, waren doch seine letzten zwei düsteren Werke auf dem Festival zu sehen. Während HERE COMES THE DEVIL (2012) auf ruhige und haarsträubende Weise im ganz wörtlichen Sinn vom Teufel erzählt, tummeln sich im Werwolf-Thriller LATE PHASES (2014) handgemachte Zottelwesen, kreiert übrigens vom SFX- und MakeUp-Spezialist Robert Kurtzman (EVIL DEAD II, FROM DUSK TILL DAWN, IT FOLLOWS, TUSK und sehr viel mehr). In seinem jüngsten Streich kehrt Bogliano zum Monster namens Gegenwartsmensch zurück, das dem Teufel und den Werwölfen in nichts nachsteht. Klar inspiriert vom koreanischen Genrekino à la Park Chan-wook sowie aber auch etwa von den Coen Brothers, liefert der Wahlmexikaner ein gnadenlos schwarzhumoriges und verstörendes Unikat, in dem einem der Gore ganz unerwartet ins Gesicht springt und sich so mancher abgehärteter Zuschauer bei der Frage ertappen wird, ob denn hier wirklich gelacht werden darf.
Unbedingt fett im Programmheft anstreichen sollte man sich auch den Midnighter namens MEXICO BARBARO, eine gewaltig höllische Unterhaltungskanone im Episoden-Korsett. Dass Horror-Anthologien richtig Spaß machen, weiß man spätestens seit THE ABCs OF DEATH 2. Zusätzlich bietet MEXICO BARBARO mit seinen acht bizarren Episoden einen Blick ins wild pulsierende Herz eines barbarischen Mexikos, in dem furchterregendste ländliche Mythen und urbane Legenden den mexikanischen Kindern seit eh und je den Schlaf geraubt haben.
Zu sehen gibt es neben Monstern, Geistern und Dämonen auch den Día de Muertos – eines der wichtigsten mexikanischen Volksfeste, auf dem mit farbenprächtigen Feierlichkeiten der Toten gedacht wird und es massenweise Süßigkeiten in Form von knallbunten Totenschädeln und Miniatur-Gräbern zu erwerben gibt.
Mit von der Partie ist neben sieben männlichen und weiblichen Regietalenten auch Jorge Michel Grau, der nach seinem weltweit ausgezeichneten Langfilmdebüt SOMOS LO QUE HAY über eine Kannibalen-Familie nun einen weiteren Beweis liefert, dass mit dem mexikanischen Horrorkino längst gerechnet werden muss!
Übrigens: Das Plakat zu MEXICO BARBARO wurde vom mexikanischen Künstler Eduardo Santaella – auch bekannt als Guro – kreiert. Und der hat gleich noch sieben weitere junge mexikanische Illustratoren ins Boot geholt, um für jedes der acht Segmente ein eigenes Plakat zu entwerfen. Und die sind mindestens so stark wie dieser Film: